Wandler Zeitschrift für Literatur Logo No. 16

 

Dieter Lohr

Ein besonderer Tag im Leben Franckes (Fortsetzung)


Der Aktenkofferklon war nicht perfekt, der Griff ein wenig abgegriffener, als Franckes Aktenkoffergriff, das Leder an einer Ecke beschädigt, und statt Franckes Initialen fanden sich die eines C. neben dem Schloß. Auf den zweiten Blick hätte Francke die Verwechslung, die offensichtlich stattgefunden hatte, an Ort und Stelle feststellen, und wenn er seinen neuen Freund noch aufgefunden und eingeholt hätte, aufklären können, hätte einen weiteren Anknüpfungspunkt für die neue Freundschaft gefunden, von dem aus er den neuen Freund aus seiner Reserve herausgelockt und das Eis gebrochen hätte. Aber wer schenkt schon einem Aktenkoffer einen zweiten Blick, wenn er den Sinn auf die wahrhaft großen Dinge des Lebens gerichtet hat?

Nun war allerdings das Erstaunens groß, denn Franckes Freund schien nichts von den banalen Gegenständen in seinem Aktenkoffer mit sich zu führen, die normalerweise zur Standardausführung gehören: Kugelschreiber, Notizblock, Adreßbuch. Statt dessen fand Francke weiter nichts vor, als hochnotierte Banknoten, säuberlich gebündelt und so zahlreich, daß sie bündig mit dem Kofferrand abschlossen. Francke wollte nicht indiskret sein und nachzählen, aber es handelte sich zweifelsohne um einen höheren Geldbetrag, als man ihn Franckes Ansicht nach freiwillig und guter Dinge ohne strenge Bewachung in einem Aktenkoffer bei sich tragen könne.

Zweifellos hätte das ordentlich zusammengefaltete Schriftstück, das Franckes neuer Freund in seiner Zigarettenschachtel verwahrt hatte, und das mittlerweile in Franckes Besitz war, ohne daß Francke als Nichtraucher davon wußte, Aufschluß geben können. Franckes neuer Freund selbst war dazu nicht mehr in der Lage, da er zu dieser Zeit, keine hundert Meter von der Parkbank entfernt, bereits tot unter einem Lindenbaum lag, und keinen Aktenkoffer mehr bei sich trug.

Früh am nächsten Morgen beschloß Francke, dem der Koffertausch auch ohne Kenntnis der tieferen Zusammenhänge dubios erschien, krank zu feiern, ein Terminus, der, ebenso wie die zugehörige Handlung noch seiner neuen ungezwungenen Einstellung sich und der Welt gegenüber entsprang, und den Aktenkoffer samt Inhalt der Polizei zu übergeben, denn trotz des Sinnenwandels war er nicht Anarchist genug, zu übersehen, was Gerechtigkeit und Unrecht auseinanderhalte. Auch zog er zu diesem Vorhaben den Mantel aus.

Kurz bevor er jedoch die nächstgelegene Polizeidienststelle erreichte, gegenüber des Polizeigebäudes, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, gerade als Francke im Begriff war, den Fuß vom Gehweg auf die Straße zu setzen, um diese zu überqueren und seinen Fund loszuwerden und sich damit Schwierigkeiten zu ersparen, von denen er im Moment beim allerbesten Willen noch nichts ahnen konnte, am nächsten Tag den gewohnten Gang seines Lebens wieder aufzunehmen und auf immer aus unserer Geschichte zu verschwinden, griff das Schicksal zu: Mit der einen Hand griff es Francke eisern ins Genick und drückte ihm einige Nackenwirbel so fest zusammen, daß Francke leicht in die Knie ging, mit der anderen griff es nach dem Koffer, den Francke in diesem Moment auch ohne Zutun losgelassen und hergegeben hätte.

Als ihm wieder unschwarz vor Augen wurde, stiegen gerade zwei Männer in einen schwarzer Wagen ein, der nur wenige Meter von Francke quietschenden Reifens im eingeschränkten Halteverbot zum Stehen gekommen war, und fuhren an.

Sei es, daß Franckes altes Ich, das ob des sofort als Unrecht erkannten Unrechts, den Versuch der Überantwortung eines unrechtmäßigen Aktenkoffer an die rechtmäßige Gesetzmäßigkeit, unrechtmäßig der Rechtmäßigkeit zu entwenden, laut aufschrie, sei es, daß der neue Francke in Francke, der draufgängerisch und ungestüm die Zügel selbst in die Hand nahm, wenn es galt, die Zügel draufgängerisch und ungestüm selbst in die Hand zu nehmen - Francke ergriff die günstige Gelegenheit, die sich in Form eines im selben Augenblick passierenden Taxis bot, beim Schopf und hielt das Taxi an, das auch tatsächlich augenblicklich anhielt.

"Folgen Sie dem schwarzen Wagen!"

Ohne die an dieser Stelle zu erwartende Diskussion über das 'Weshalb' und 'Wohin' setzte sich der Wagen in Bewegung. Die Autorität der neuen Francke-Persönlichkeit schien Wirkung zu zeigen, und obwohl sich Francke einerseits insgeheim freute, daß diese Wirkung auch ohne den an dieser Stelle in dieser Situation wirkungsvollen Trenchcoat zustande kam, wünschte er sich andererseits insgeheim den Trenchcoat doch herbei.

"Zigarette?"

Der Taxifahrer war ein echter Freund und Erlöser aus der Not. Nicht nur, daß er dem schwarzen Wagen, dessen Insassen der Verfolgung offenbar gewahr geworden waren, durch alle Einbahnstraßen, sich schließenden Eisenbahnschranken und sonstigen Abschütteleien hindurch hartnäckig auf den Fersen blieb, er hatte inmitten dieser professionellen Souveränität, die jeden anderen Taxifahrer bis zur Bewußtlosigkeit ausgelastet hätte, noch Zeit, Franckes Verlegenheit bezüglich des fehlenden Trenchcoats erstens zu bemerken, und zweitens gekonnt zu überbrücken, ohne daß diese Überbrückung so unsensibel ausgefallen wäre, daß sie einem der beiden Abenteurer hätte peinlich sein müssen - ein echtes Meisterstück angesichts so viel Geschehens und so großer Coolness der Beteiligten. Francke revanchierte sich angemessen, indem er der entgegengehaltenen Schachtel mit beiläufigem "o.k." eine Zigarette entnahm, aus den Augenwinkeln jedoch ein anerkennendes und aufrechtes "Danke, Freund" spielen ließ.

Die Zigarette tat die Wirkung, die erste Zigaretten in aller Regel tun, und als Francke sich von seinem Hustenanfall erholt hatte und die Augen wieder nach vorne richtete, ging zwanzig Meter vor ihm so sehr 'die Post ab', daß der Taxifahrer die Verlegenheit, mit der Francke des erlittenen Hustenanfalls wegen zu kämpfen gehabt hätte, wenn Gelegenheit dazu gewesen wäre, gar nicht hätte bemerken oder gar überbrücken können, da er alle Lenkhände und Bremsfüße voll zu tun hatte, die Katastrophe, die sich zwanzig Meter weiter vorne abspielte, von Francke und sich selbst fernzuhalten.

Der schwarze Wagen war soeben über eine rot beampelte Kreuzung gerast, als er von zwei weiteren Wägen, die aus einer Seitengasse der anschließenden Straße aufgetaucht waren, abrupt aufgehalten wurde: Quietschende Reifen, klirrendes Fahrzeugblech, aussteigende Männer, knatternde Maschinenpistolen.

Der Verlauf der Handlung ging so rasch vonstatten, daß Francke ihr nur in ihren gröbsten Zügen folgen konnte. Nicht so der Taxifahrer, der geistesanwesend genug war, seine bereits hinlänglich unter Beweis gestellte Professionalität noch zu überbieten, indem er rasant und praktisch auf der Stelle wendete, Vollgas gab, sich trotz der einschlagenden Kugeln in Heck und Rückfenster des Wagens nicht aus der Fassung bringen ließ, und die Geschicklichkeit, die er aufgeboten hatte, um sich von dem schwarzen Wagen nicht abschütteln zu lassen, nun bei weitem übertraf, indem er es vollbrachte, die beiden schwarzen Wägen, die Francke und ihn nun in noch atemberaubender Geschwindigkeit verfolgten, seinerseits erfolgreich abzuschütteln.

Nach etwa zehn Minuten war man die beiden Wägen los, nach etwa weiteren zwanzig am Ziel, einer, selbstverständlich in Hafennähe gelegenen, Wellblechbaracke. Der Taxifahrer schien erstaunlich gewandt im Umgang mit der Art von Ganoven zu sein, die man an ihren pockennarbigen Gesichtern und grimmigen Mienen erkennt, und von denen gerade zwei aus der Türe traten und sorgenvoll den Wagen musterten.

Vom folgenden kurzen aber offensichtlich doch bedeutungsvollen Gespräch konnte Francke, der im Gegensatz zu dem Taxifahrer, der dem Wagen entstiegen, in selbigem sitzen geblieben war, nur Bruchteile, eigentlich gar nichts verstehen, und das sehr zu seinem späteren Bedauern, da er sich noch über längere Zeit hinweg kein vollständigeres Bild von den Vorgängen machen konnte als das, daß dem Taxifahrer, auf den Francke noch während des Gesprächs vor seinem geistigen Ohr Lobeshymnen gesungen hatte, wohl doch nicht bedingungslos über den Weg zu trauen war, da sich zum Ende des Gesprächs die Ganoven, die sich damit spätestens zu diesem Zeitpunkt als solche zu erkennen gaben, dem Taxi näherten, die Beifahrertür öffneten, Francke unsanft aus dem Wagen zogen, ihm noch unsanfter die Hände auf den Rücken drehten, ihn auf die Motorhaube warfen und seine Taschen durchsuchten. "Paßt auf" hörte Francke den Taxifahrer noch sagen, "der Mann ist gefährlich", bevor er einen kurzen aber heftigen Schmerz am Hinterkopf verspürte, und danach nichts mehr.

Viel zu früh, wenn er es sich recht überlegte, erwachte Francke mit dem Inhalt eines Eimers Wasser im Gesicht.

"Erstens, Bürschchen: Wenn du 'Zweitens' und 'Drittens' brav beantwortest, machen wir es kurz und halbwegs schmerzlos. Zweitens: Wo ist Charlie? Drittens: Wo ist der Koffer mit dem Material?"

Der Fragesteller ihm gegenüber saß an einem breiten Eichentisch, rauchte Zigarre und war den massigen Fingern nach zu schließen, mit denen er drohend in Franckes Richtung gestikulierte, auch ansonsten massig. Mehr konnte Francke nicht erkennen, da auf der einen Seite des Schreibtisches eine allzu helle Schreibtischlampe so ungeschickt plaziert war, daß sie die Tischplatte nur mangelhaft ausleuchtete und statt dessen Francke blendete, der daher seinem Gegenüber nicht recht in die Augen zu sehen vermochte. Auf der Tischplatte lag ein offener Aktenkoffer, und angesichts der Tatsache, daß die massigen Finger diesem während des Frageflusses Franckes eigenes Pausenbrot entnommen und nach Francke geworfen hatten, ahnte Francke, daß es sich wohl um seinen eigenen Koffer handeln müßte. Über den Koffer, den Francke am Vormittag der Polizei hatte übereignen wollen, konnte einerseits der Taxifahrer die gleichen, und sicherlich nicht zufriedenstellenden Angaben wie Francke selbst machen, und weiterhin bestätigen, daß Francke über dessen Verbleib wohl auch nichts auszusagen wußte. Schließlich war der Koffer seines neuen Freundes mit Geld gefüllt gewesen, worauf Franckes Ansicht nach der verwendete Terminus nicht ausreichend paßte, und da der offenbar massige Herr Franckes Pausenbrot so wenig Respekt zollte, war dies ebenfalls nicht das Material, nach dem er verlangte. Es mußte also nach einem weiteren Koffer gefragt worden sein, von dem Francke nichts wußte. Wenn er nicht einmal wußte, um welches Material es sich handle, woher solle er dann denn wissen, wo es sei? Charlie stand zweifellos mit dem Material in Verbindung und wußte sicherlich auch über den Verbleib des Koffers bescheid. In der Annahme, Charlie sei sein neuer Freund, hätte auch Francke selbst gerne gewußt, wo dieser sich aufhalte.

Da Francke einerseits zu langsam, und weiterhin weder laut noch daher öffentlich nachdachte, was als Antwort hätte gewertet werden können, erhielt er in Ermangelung der Beantwortung der an ihn gerichteten Fragen einen kräftigen Fausthieb gegen die rechte Gesichtshälfte, und als er automatisch den Kopf in die Richtung wendete, aus der der Schlag gekommen war, stellte er fest, daß auch sein Freund, der Taxifahrer anwesend war, worüber er allerdings keine allzu herzliche Freude empfinden konnte, da dieser gerade im Begriff war, ein weiteres mal zum Schlag auszuholen, und als Francke schützend die Hände vor das Gesicht halten wollte, stellte er fest, daß er an dem Stuhl, auf dem er saß, festgebunden war. Also traf ihn der zweite Schlag mitten ins Gesicht, gerade auf die Nase, aus der auch sofort Blut in größeren Mengen austrat, so daß Francke nun gänzlich ein Bild des Elends darstellte.

"Also," wandte sich der offenbar massige Herr wieder an Francke, als zum größten Erstaunen aller das Telefon klingelte, das bis dahin unbemerkt auf der der Schreibtischlampe gegenüber liegenden Ecke des Tisches gestanden hatte.

Der offenbar massige Herr hob den Hörer ab: "Ja" - dann einige male "aha", dann wieder "ja", schließlich "um 17 Uhr also", und ein letztes "ja", und als wäre die eindeutige Tonfallveränderung im Laufe des Gesprächs nicht bereits aussagekräftig genug gewesen, schlugen die massigen Finger den Hörer auf, anstatt ihn aufzulegen, hielten noch einige Sekunden Telefon samt Hörer fest und warfen diese Einheit alsdann nach demjenigen der beiden Ganoven, der Francke näher stand - warum wußte Francke nicht, und ob es der offenbar massige Herr oder der Ganove selbst wußten, ist fraglich; jedenfalls wagte der Ganove aus Angst vor weiteren und verschärften Attacken nicht, dem Wurfgeschoß auszuweichen und schien offensichtlich ein Telefon an den Kopf einer Kugel in den Kopf als Strafe für das Umgehen des Telefons vorzuziehen - immerhin wurde sein geheimer Wunsch nach einer nicht allzu großen Platzwunde erfüllt.

Der massige Herr schien sich wieder beruhigt zu haben: "Also Jungs: Charlie hat sich nicht nur das Geld zurückgeholt, er hat auch Harry umgelegt und den Koffer mit dem Material an sich gebracht, das er uns jetzt anbietet. Die Übergabe findet in einer halben Stunde statt. Freiwillige vor."

Derjenige der beiden Ganoven, der Francke näher stand, hatte sich rechtschaffen mit einem Papiertaschentuch den blutenden Kopf abzutupfen und die Reste des Telefons aufzusammeln, der zweite Ganove durchwühlte all seine Jacken- und Hosentaschen nach seiner Taschenuhr, um die momentane Uhrzeit, auf die er durch logische Kombination von den Zeitangaben des massigen Herrn geschlossen hatte, zu überprüfen, und der Taxifahrer mußte sich wohl bei der Bestrafung Franckes für zu langsames Antworten eine Verletzung an der Schlaghand zugezogen haben, die nun der aufmerksamen Pflege durch Pusten und Reiben bedurfte.

"Also Jungs," erklang es aus dem Dunkel neben der blendenden Tischlampe: "dann bindet den Herrn Francke mal los und erklärt ihm seinen Auftrag."

(Fortsetzung)